„Du wirst es erleben. Es ist unfassbar, was sich wildfremde Leute trauen über dein Baby zu sagen. Wo die sich einmischen wollen. Du wirst es erleben. Jede Wette.“
Ich war noch voll im Wochenbett und konnte diese düsteren Prognosen meiner Freundin überhaupt nicht glauben. Zu dem Zeitpunkt war ich frisch vollgepumpt mit Hormonen, die dafür sorgten, dass ich im Kreissaal erklärte, ich will auf jeden Fall noch ein zweites Kind. (Das war dann auch der einzige Moment an dem ich glaubte JETZT fällt mein Mann um :D) Die Welt ist ein schöner Ort und voll mit Liebe, Liebe, Liebe….und Milcheinschuss. Daher war es für mich unvorstellbar, dass ich irgendwann mal meine Top 3 der übergriffigsten Sprüche von wildfremden schreiben würde.
Et voila, hier sind sie. Die drei Situationen, die sich teilweise, wenn auch in abgewandelter Form regelmäßig wiederholen. Scheisse Stinki ist das, wirklich Stinki.

„Lassen Sie das Kind bloss liegen, sonst schreit es immer wenn es fällt!“
Mein Wildling rennt los, fällt auf seine Nase und weint. Ein älteres Ehepaar tritt als Retter in der Not auf und versucht mich von meinem falschen Erziehungspfad abzubringen: „Nein, bloss nicht aufheben! Das war nur der Schreck! Der macht das sonst immer!“
Mir fallen tausend Dinge ein, die ich erwidern möchte. Doch nichts würde ich so ruhig rausbringen, dass es meinem Kleinen irgendwie hilft. Aua und eine motzende Mama braucht echt keiner. Daher belasse ich es beim Hochheben des Krokodilstränen vergiessenden 17 Monate alten Tyrannen mit einem galligen: „Das entscheide ja wohl ich, wie ich mit meinem Kind umgehe wenn es fällt!“
Johanna Haarer und ihre kruden und menschenfeindlichen Erziehungstipps sitzen tief in vielen älteren Köpfen.
Johanna wer? Noch nie gehört? Gut so. Die Dame war die Vorzeigeerziehungspädagogin der NS-Zeit. Sprüche wie „schreien stärkt die Lungen“ haben wir ihr zu verdanken.
Pro Tipp: Immer wenn mir jemand mit Erziehungstipps wie „lass ihn schreien“ oder „gib ihm nicht ständig die Brust“ oder „verwöhn den bloss nicht zu sehr, zeig ihm sofort seine Grenzen“ kommt, kläre ich gerne darüber auf, dass wir in unserer Familie keine NS-Ideologie anwenden. Zack. Ruhe.
Die Dame hatte übrigens fünf Kinder und keines, wirklich keines, hat auch nur ein positives Wort für seine Mutter übrig. Das Problem ist, dass ihre menschen- und kinderfeindliche Pädagogik noch viele Jahre nach Kriegsende vorherrschte. Es gab schlicht noch keine Ansätze die schwarze Pädagogik aufzuarbeiten oder alternative Lektüre über Säuglingspflege.
Hatte zur Folge, dass Nachkriegsmütter auch in den 50er Jahren ihre „Werke“ als ziemlich einzige Informationsquelle für die „Kinderaufzucht“ zur Verfügung hatten. Na, herzlichen Glückwunsch.
Ich habe diese gesellschaftliche Allgemeinmeinung auch mal ahnungslos nachgeplappert. „Wenn Kinder fallen, dann bloß nicht soviel Gewese drum machen“. Blablabla. Keine Ahnung gehabt aber ganz viel Meinung.
Jetzt bin ich Mutter und weiß, dass mein Sohn kein manipulierendes Monster ist, das hinfällt und aufmerksamkeitsheischend weint. Mein Sohn weint, wenn er sich weh getan hat. Oder wenn es mir nicht gelingt, meinen Schreck zu verbergen und er dadurch verunsichert wird. Aber er weint sicherlich nicht ohne Grund. Ich übrigens auch nicht. Und wenn ich dasitze und weine, egal aus welchem Grund, möchte ich auch getröstet und in den Arm genommen werden. Dann wünsche ich mir, dass meine Bezugsperson für mich da ist, meinen Kummer ernst nimmt und mir nicht unterstellt, ich wäre ein manipulierendes Ding.
Warum soll man eigentlich kein Gewese drum machen, wenn die Kinder sich verletzen und weinen? Oder weinen allgemein? Ich mache ein tierisches Gewese draus wenn mein Sohn sich verletzt. Und da er fast 1,5 Jahre alt ist, passiert das täglich. Ich puste, tröste, drücke, küsse, streichle, flüster beruhigende Worte und wische seine Tränchen Rotzblasen weg. Wenn er es nicht selbst an meinem Pulli erledigt.
Zwar nur für 3,5 Sekunden, dann hat er die Schnauze voll von Mamas Trösten und rennt mit neuer Schmare lachend weiter. Einmal Mama tanken und weiter gehts.
Johanna Haarer ist tot, ihr kinderfeindliches Lebenswerk leider noch nicht. Und das zeigt sich bei der Sorge, dass wir unsere Kleinsten mit zuviel Liebe schaden. Absurd. Absolut absurd. Die Angst ist da, dass es den Kindern schadet, wenn man ihre Not wahrnimmt, ernst nimmt und mit Liebe begegnet?
Lächerlich.

„Du bist aber kein hübsches Kind mehr wenn du so unartig bist!“
Ja, super! Welch ein Glück, dass eine völlig fremde Frau, ein ihr völlig fremdes Kind von völlig fremden Eltern in einer ihr gänzlich unbekannten Situation fachmännisch und pädagogisch gnadenlos großartig beurteilen kann. Hände hoch! Und nicht zu vergessen: so hilfreich. Und als hässlich bezeichnet zu werden ist immer, immer besser für ein gutes Selbstbewusstsein als wenn einem jemand sagt, dass man hübsch ist so wie man ist. Weiß doch jeder.
Die Situation, die sie sah, war ein wild um sich schlagendes Kleinkind, krebsrot im Gesicht, das nichts und niemanden an sich ran ließ. Geballte Trotzwut aufgeteilt auf 15 Kilo.
Der Hintergrund: wir Eltern hatten es verzockt, rechtzeitig zu erkennen, dass unser Kleiner gerade zuviel erlebt hatte für seine 16 Monate. Er hatte sich in ein sehr süßes kleines Mädchen mit Bändern im Haar verliebt, eine neue Rutsche ausprobiert, Sand gegessen, seinen neuen Bollerwagen eingeweiht und wir waren viel zu spät dran für den Heimweg. Und das alles innerhalb von zwei Stunden. Es kam wie es kommen musste: Unser Sonnenscheinchen fand alles doofdoofdoof und explodierte im Seepark in Sellin.
Solche Situationen lieben die meisten Eltern. Man ist sich der ungeteilten Aufmerksamkeit aller sicher und ernsthaft, keiner geniesst das Gebrüll eines wütenden Kleinkindes. Auch nicht die eigenen Eltern. Während wir also damit beschäftig sind, nicht noch mehr Öl ins Feuer zu giessen, kann ich enstpannt warten, wer denn den Eimer Wassser anschleppt um ihn in die kochend heiße mit Öl gefettete Pfanne zu giessen.
Dieses mal also eine ältere Dame, die unserem Sohn erklärte, wie hässlich er wird, weil er weint und das er ganz schnell wieder artig zu sein hat. Sowas ist das Allerletzte und es ist völlig egal ob sie auf eine sehr unglückliche Art helfen wollte. Man hilft niemanden indem man ihn schlecht macht, indem man ihm sagt er ist hässlich/zu klein / zu dick/ zu dünn / zu weiß / zu schwarz / zu bunt. Geht gar nicht.
Und um es deutlich zu machen: damit kann man Kinderseelen schaden. Und zwar massiv und nachhaltig. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die diese Situationen ausschweigen und mit Sicherheit schweige ich nicht, wenn hinter mir jemand läuft, der meinem Kind ständig sagt, es „sieht ganz hässlich aus, wenn du soviel weinst“. Ich drehte mich um und würgte heraus, dass sie bitte aufhören sollte mein Kind zu beleidigen.
Upsi! Hat sie nicht so gemeint. Aber genau das hat sie gemacht. Es beschämt mich, dass die Generation, die – Achtung, jetzt kommt mal eine richtige Verallgemeinerung – sich so gerne über die „verzogenen“ Jungen aufregt, die angeblich keinerlei Benehmen und Anstand haben und sowieso UNMÖGLICH sind, es keinen Deut besser macht. Respekt und Achtung vor einander ist keine Einbahnstraße sondern der Klebstoff der unsere Gesellschaft zusammen hält.

„WIe? Kann der etwa noch nicht sprechen?“
Bevor ihr glaubt, ich echauffiere mich hier nur über die ältere Generation, nein, nein. Der Spruch kam von einem Papa, der mit seinem kleinen Sohn beim Bäcker auf Rügen war. Sein Sohn hopste rum, unserer auch und sie knüpften zarte Bande. Sein Sohn, der zumindest so alt war, dass er schon etwas sprechen konnte – aber ein gutes Stück kleiner als unser damals 16 Monate alter Lausbube – plapperte munter drauf los. Die Reaktion unseres Kleinen war viel Gelache, Brabbellaute und er strahlte seinen neuen Kumpel begeistert an. Natürlich kein Small Talk über die aktuelle Entwicklung der Aktienkurse.
Der Vater guckt meinen Mann an, seinen Sohn, sein Blick wandert wieder zu unserem Kind und schliesslich zeigt er mit dem Finger auf unseren Sohn (absolute Unart dieses mit dem Finger auf jemanden Gezeige, wie Ware, aber das nur am Rande) und brüllte durch die Bäckerei „Wie? Kann der etwa noch nicht sprechen?!“ und verzog entsetzt das Gesicht.
„Mit 16 Monaten kann er das natürlich noch nicht.“ war die Antwort meines Mannes und dann war Ruhe.
Es ist noch nicht mal dieses ätzende Vergleichen – und die völlig falschen Schlüsse ziehen, das mich so stört an der Reaktion des Mannes. Seine Frage implizierte, dass mit unserem Sohn etwas nicht stimmte.
Es ist diese Respektlosigkeit, dass er sich VOR meinem Sohn negativ über ihn äußert. Als ob es egal ist, was man über ihn denkt und spricht. Als ob er nicht existiert. Als ob er ein Ding ist, dass man bemustern und beurteilen und verurteilen kann. Da er optisch locker als 2,5 durchgeht, müsste doch mal ein bisschen mehr als Gebrabbel aus ihm rauskommen, dachte sich der Mann wohl in seiner unendlichen Klugheit und kam zu dem einzig logischen Schluss, zu dem er fähig ist: mit dem stimmt was nicht.
Wow. Eine Frage und er hat sich menschlich komplett disqualifiziert. Man spricht nicht negativ über Kinder und erst Recht nicht in ihrer Gegenwart. Und schon mal gar nicht, wenn sie sich offensichtlich nicht mit Worten zur Wehr setzen können! Auch nicht wenn sie klein sind und „eh nichts mitbekommen“. Sie bekommen alles mit. Und erst Recht wertet man kein Kind ab. Weder das eigene noch ein fremdes.
Dabei ist die Wahrheit so simpel: Unser Sohn ist einfach groß für sein Alter, kein zarter Hänfling und schwingt seine Beinchen halt in Kleidergröße 98 durch die Gegend.
Und selbst WENN unser Sohn drei Jahre wäre und kein Ton sagt, geht so eine Frage gar nicht. Vielleicht hat er einfach noch keine Lust zu reden?
Mich verletzen solche Sprüche sehr. Sogar sehr sehr. Ich hätte mir gewünscht, dass unser Sohn in eine Welt geboren wird, die ein bisschen liebevoller miteinander umgeht. Eine Welt in der Bedürfnisse des Kindes Platz haben ohne, dass gleich Panik aufkommt, dass aus dem Kind nichts wird. Ein bisschen optimistischer. Ein bisschen weniger Wettkampf à la „mein Kind ist viel besser als deins und deswegen machst DU alles falsch“.
Mein Kind befindet sich nicht im Wettkampf. Ich übrigens auch nicht.
Mit welchen Erziehungsratschlägen treibt man euch zur Weißglut?
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2 Comments
Danke danke und nochmals danke! Mir geht es genauso wie dir. Diese ungefragten Kommentare sind einfach nur dreist.
Liebe Grüße einer 5fachen Mama, die aktuell wieder Tipps fürs Baby, wie „Schreien kräftigt die Lungen“ bekommt.
…und kann zum Bruch der Bauchdecke führen. Grauenhaft dieser Spruch. Ich dachte,der wäre ausgestorben aber nö.
Oh, man, du kannst vermutlich ein Buch der übergriffigsten Kommentare schreiben! Ich wünsche dir beste Nerven und das die Phase ganz schnell vorbei ist…und für die nächste doppelt so starke Nerven! 🙂